Nachruf auf Prof. Dr. rer. nat. habil. Günter Westphal

„Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muss durch ihren Kopf hindurch;
aber welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab.“

Immer mal wieder benutzte Prof. Westphal dieses Zitat von Friedrich Engels. Je nach Lesart handelt es entweder von menschlicher Motivation, von forschender Entwicklung oder von gesellschaftlichen Zuständen – oder eben auch von allen drei Aspekten zusammen. Alle drei Perspektiven gemeinsam jedenfalls beschäftigten zeitlebens unseren langjährigen wissenschaftlichen Berater, Förderer, Kollegen und Freund Günter Westphal: Als Betreuer und Mentor verstand es Prof. Westphal wie kaum ein Zweiter, seine Schüler an seinem enzyklopädischen Wissen teilhaben zu lassen und sie zugleich auch menschlich zu fördern und zu motivieren. Als Naturwissenschaftler – bzw. als „Naturstoffchemiker“, wie er sich selbst bezeichnete – widmete er sich vor allem den Kräften, welche die Stoffe und Moleküle in ihrem Innersten zusammenhalten. Und als wacher, kritischer Geist wurde er nie müde, die Welt und den Zustand, in dem sie sich befindet, zu beobachten, zu analysieren und zu beurteilen.

Günter Westphal wurde am 11. Juni 1937 in Raddack in der heutigen Wojewodschaft Westpommern als Sohn einer Bauernfamilie geboren. Nach der Grundschulzeit besuchte er die Oberschule in Heringsdorf (Usedom), um anschließend an der Pädagogischen Hochschule Potsdam das Lehramt Chemie zu studieren. Nach einem Jahr Schuldienst in Berlin-Mitte nutzte er die Gelegenheit, sich von 1960 bis 1965 als Wissenschaftlicher Assistent an der Potsdamer Hochschule weiter zu qualifizieren. Bei Hans-Hartwig Stroh studierte und erforschte Günter Westphal dort vor allem die Stoffgruppe der Kohlenhydrate, welche ihn sein gesamtes Forscherleben beschäftigen würde. Nach dem erfolgreichen Abschluss seiner Promotion folgte Dr. Westphal seinem Lehrer 1965 an das Institut für Chemie der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Als Oberassistent verteidigte er dort 1969 seine Habilitationsschrift über die Verwendung zuckerhaltiger Abwässer. Seiner Ernennung zum Dozenten für Organische Chemie folgte 1974 die Berufung zum Professor für dieses Fachgebiet. Ab Mitte der 1980er Jahre war Prof. Günter Westphal Direktor der Sektion Nahrungsgüterwirtschaft und Lebensmitteltechnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Einen breiten Raum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nahmen die Synthesechemie, experimentelle Arbeiten zur Maillard-Reaktion sowie Forschungen zur Vorratshaltung und Konservierung landwirtschaftlicher Produkte bzw. von Lebensmitteln ein. Die Ergebnisse seiner Forschungstätigkeit veröffentlichte Prof. Westphal in zahlreichen Beiträgen und Journalen; herausragend seien die beiden Monografien „Reaktionskinetik in Lebensmitteln“ (1996) und „Proteine – nutritive und funktionelle Eigenschaften“ (2003) genannt. Nach der politischen Wende engagierte sich der Wissenschaftler Westphal in den 1990er Jahren aktiv in Unternehmen der boomenden Berliner Biotechnologie-Branche, bevor er am Institut für Agrar- und Stadtökologische Projekte an der Humboldt-Universität zu Berlin (IASP) schließlich seine dritte wissenschaftliche Heimat fand.

Ein wichtiger Teil dessen, was uns am IASP in Bewegung setzte, waren Prof. Westphals Ideen. Ob es um Möglichkeiten der Verwertung von nicht verkehrsfähiger Milch ging oder um die Verknüpfung von Proteinen und Kohlenhydraten aus Reststoffen zu neuartigen Verbundstoffen, ob die Hochdruck-Hydrolyse zum Aufschluss von Tiermehl oder die Gewinnung von Kollagen für gesundheitliche Anwendungen im Mittelpunkt standen – stets war Prof. Westphal Inspirator und Motor zugleich. Dabei prägte er über viele Jahre auch die Umstände, von denen die Gestaltwerdung seiner Ideen in unserem Institut laut Friedrich Engels abhing: Prof. Westphal war gleichsam unser „gutes biochemisches Gewissen“, uneigennützig stand er jedem Fragesteller mit Rat zur Seite, und wenn es darum ging, aus Casein und Stroh quasi Gold zu spinnen, dann schreckte unser Professor auch vor der konkreten Tat im Labor nicht zurück: kreativ im Denken und konsequent im Handeln. Was uns aber vor allen anderen Dingen beeindruckte, das waren seine menschliche Wärme und seine väterliche Fürsorge.

Am 22. März 2019 ist Prof. Dr. rer. nat. habil. Günter Westphal nach schwerer Krankheit in Berlin verstorben. Unser Mitgefühl gilt der Familie, den Kindern und Enkeln von Günter Westphal. Auch wir werden unseren Professor sehr vermissen. Was bei uns am IASP bleibt, das sind wir selbst: seine Schüler, sein wissenschaftlicher Nachwuchs. In seinem Sinne, mit seinem Andenken werden wir weiter forschen und entwickeln – oder, um es mit einem anderen Zitat von Friedrich Engels zu formulieren:

„Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit,
sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze und in der damit gegebenen Möglichkeit,
sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen.“

Im Namen des Vorstands und der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IASP:
Dr. Stefan Köhler, Geschäftsführer
Berlin, den 28. März 2019